Was gesagt werden muss, aber nicht gesagt werden darf by Hans Rauscher
Autor:Hans Rauscher
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Red Bull
veröffentlicht: 2017-07-15T00:00:00+00:00
Der europäische Journalismus wollte lange einfach nicht hinschauen
Aber selbst wenn man diese offenkundige Tatsache in Rechnung stellt, sind die Qualitätsmedien und ihre Journalisten dennoch nicht von zwei großen journalistischen Versäumnissen und Fehleinschätzungen freizusprechen:
Sie haben zu lange weder die ökonomische Verunsicherung breiter Bevölkerungsschichten durch die Globalisierung noch die psychologische Verunsicherung derselben Schichten durch die Zuwanderung erkannt. Und wenn sie sie erkannt haben, dann haben sie nicht entsprechend darauf reagiert, alle ihre Ressourcen eingesetzt, um ein Thema daraus zu machen – eher im Gegenteil.
Das gilt besonders für die Zuwanderung. Das Thema »Wie leben die Migranten bei uns, und was geht uns das möglicherweise an« war fast jahrzehntelang keines. Der europäische Journalismus wollte einfach lange nicht hinschauen. Und zwar weder der Krawall- noch der Qualitätsjournalismus. Die Boulevardpresse hatte bald heraus, dass die Zuwanderung auf beträchtliches Unbehagen gerade bei den einfacheren Schichten stieß (und stößt). Damit hatten die Krawallblätter ein Thema, dass sie mit den Rechtspopulisten teilten. Jedoch verstärkten sie nur das Unbehagen ihrer Leser mit den Zuwanderern, vor allem den muslimischen, interessierten sich aber nicht für deren wirkliches Leben. Reportagen aus Moscheen haben immer noch Seltenheitswert (auch mangels sprachkundiger Journalisten). Es wird über die Köpfe der Zuwanderer hinweg berichtet und kommentiert, auch wenn jetzt die politischen Ambitionen besonders der türkischen Erdoğan- Anhänger in Österreich doch stärker beachtet werden. Aber das Alltagsleben der Zuwanderer kommt fast nicht vor.
Ganz ähnlich verhält es sich auf der anderen Seite der (liberalen) Qualitätsmedien. Für sie waren die Zuwanderer, muslimisch oder nicht, lange Zeit lediglich Projektionsflächen für die eigene tolerante, aufgeklärte Haltung: gegen Rassismus, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen »Islamophobie«. Zuwanderer waren eigentlich nur Anlassfälle für den eigenen politischen Kampf. Was genau sich in ihrer Welt abspielte, war nicht so interessant.
Dass diese Türken, Bosnier, Tschetschenen und jetzt Afghanen und Nordafrikaner aber eine eigene Identität mit eigenen Sitten und Gebräuchen und eigenen unter Umständen problematischen Traditionen hatten, war lange Zeit unter liberalen Journalisten kaum präsent und auch nicht so wichtig.
Immer noch ist es so, dass das wahre, alltägliche Leben der Zuwanderer viel zu wenig journalistisch aufgearbeitet wird, und zwar auch durchaus im Sinne eines Qualitätsjournalismus. Es ist vielen einfach zu mühsam, über Sprach- und sonstige Barrieren hinweg direkt in die Welt der Zuwanderer einzutauchen. So bleibt fast nur die Kriminalitätsberichterstattung: wenn sich Tschetschenen und Afghanen eine Straßenschlacht liefern, wenn tschetschenische Jugendliche durch besondere Gewaltaffinität auffallen. Der Hintergrund wird meist nicht beleuchtet: dass es sich um eine Ethnie handelt, die nach dem zweiten Tschetschenienkrieg 1999 verstärkt Asyl in Österreich erhielt, die seit Jahrhunderten gegen russische Unterdrückung kämpft und dabei in einem archaischen Clansystem mit einem zwanghaften »Ehre und Gewalt«-Code verstrickt bleibt.
Soll heißen: Sowohl der Boulevard- wie der Qualitätsjournalismus haben die Herausforderung durch die Zuwanderung nicht recht bewältigt, der zweite etwas besser als der erste, aber trotzdem nicht ausreichend. Das müssen wir uns eingestehen.
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